Billy The Kid – Charles Neider

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Billy the Kid – Charles Neider

Rezension


Leseversion: Bibliothek des Abenteuers
Originaltitel: The Authentic Death of Hendry Jones (1956)
Verlag: Robinson
Übersetzung: Udo Rennert
Illustrationen: Ingrid Buss
Veröffentlicht: 1984
Status: Deutsche Erstausgabe
Seiten: 243


Autor: Charles Neider
Realname: Charles Neider

Galerie Fazit

Veröffentlicht: 26.04.2022

Rezension von Reinhard Windeler

Hintergrund

„Billy the Kid“ steht auf dem Buchrücken, aber der vollständige Titel lautet „Die einzig wahre Geschichte vom Leben und grausamen Ende des berühmten Revolverhelden Hendry Jones, genannt Billy the Kid“. Nun wissen sicherlich viele, dass Billy the Kid nicht Hendry Jones hieß, und der Held des Romans heißt auch nicht Billy the Kid, sondern wird nur „The Kid“ (bzw. in der deutschen Übersetzung meist nur „Kid“) genannt. Offensichtlich erhoffte sich der deutsche Verlag von dem bekannten Namen höhere Verkaufszahlen, und tatsächlich hat der Roman durchaus etwas mit “Billy the Kid” zu tun – aber er handelt nicht von ihm.

Charles Neider (1915 – 2001) plante zwar einen Roman über den „echten“ Billy the Kid und recherchierte vor Ort in New Mexico, kam aber nicht recht voran und fasste den Entschluss, sich von den historischen Geschehnissen zu lösen und seine Geschichte nach Süd-Kalifornien zu verlegen. Er lässt sie 1883 spielen, als Billy the Kid längst tot war, und zitiert Wyatt Earp in einer Rückschau mit den (fiktiven) Worten, einen Gunfighter wie Kid (also Hendry Jones) habe es nie wieder gegeben; auf die Frage, was Earp von Billy the Kid halte, lässt er ihn antworten: „Kid hätte aus Billy Hackfleisch gemacht.“ (Im Original: The Kid would have cut Billy in two.)

Obwohl also Neider die beiden Figuren klar voneinander abgrenzt und seinen fiktiven Kid sogar über den historischen Billy the Kid stellt, bezeichnete der deutsche Verlag die Hauptfigur auf dem Titel unsinnigerweise als Billy the Kid und blieb auch im Klappentext dabei.

Für 40.000 $ erwarb eine Marlon Brando gehörende Produktionsfirma die Filmrechte an der Story. Eine frühe Drehbuchversion schrieb 1957 der junge Sam Peckinpah (1925 – 1984), aber Brando (1924 – 2004) ließ das Skript von anderen Autoren tiefgreifend überarbeiten. Kurz vor Drehbeginn Ende 1958 überwarf Brando sich zudem mit dem Regisseur Stanley Kubrick (1928 – 1999), woraufhin er neben der Hauptrolle auch die Inszenierung übernahm. Der Film, der Brandos einzige Regiearbeit blieb, kam erst 1961 unter dem Titel „One-Eyed Jacks“ (dt.: Der Besessene / Noch hänge ich nicht) in die Kinos und erhielt durchaus gute Kritiken, hat aber mit Neiders Geschichte außer einigen beibehaltenen Rollennamen kaum noch etwas zu tun. Knapp zwölf Jahre später drehte Peckinpah seinen Film „Pat Garrett and Billy the Kid“ (dt.: Pat Garrett jagt Billy the Kid), in dem sich deutlich mehr Anklänge an Neiders Roman finden.

Neider schrieb nie wieder einen Western. Seine Haupttätigkeit in jenen Jahren bestand in der Herausgabe der Werke Mark Twains.

Der Verlag Robinson veröffentlichte die deutsche Ausgabe 1984 broschiert in einem taschenbuchähnlichen Format zum stolzen Preis von DM 24,80. Eine bescheidenere Taschenbuchausgabe folgte 1988 beim Fischer-Verlag (TB 8259), die mit DM 9,80 aber auch nicht gerade billig war. Seitdem gab es weder Nachdrucke noch E-Books.

Inhalt

Der Roman besteht aus neun Kapiteln. In sechs davon tritt Edward Richard Baker, der üblicherweise „Doc Baker“ genannt wird, als Ich-Erzähler auf, der sich viele Jahre später an die Zeiten erinnert, als er zu Kids Bande gehörte, und wegen der Legenden, die sich um Kid gebildet haben, klarstellen will, wie es damals wirklich war. Dass Kid letztlich von Sheriff Dad Longworth erschossen wurde, wird als allseits bekannt vorausgesetzt. Baker berichtet zunächst davon, wie er Kid 1881 kennenlernte und dieser 1883 von Longworth verhaftet wurde.

Die drei Kapitel (55 Seiten), die aus Sicht eines allwissenden Erzählers geschildert werden, beschränken sich auf die vier Tage, die der zum Tode verurteilte Kid im Gefängnis in Monterey verbringt, bis ihm die Flucht gelingt, bei der er seine zwei Bewacher – den gutmütigen Mexikaner Pablo Patron und den gemeinen Lon Dedrick – erschießt.

Kid verlässt mit seinen Kumpanen – neben Doc Baker sind dies Harvey French und Bob Emory – zunächst Kalifornien und geht für ein paar Wochen nach Mexiko, kehrt dann aber nach Kalifornien zurück, obwohl er weiß, dass Longworth ihn dort erneut jagen wird. Infolge eines Versehens ist es jedoch French, der von Longworth erschossen wird. Als Dedricks Brüder den jüngeren Bruder seiner mexikanischen Geliebten ermorden, übt Kid nicht nur Rache an ihnen, sondern tötet er auch Emory, von dem er seit einiger Zeit glaubt, er bringe ihm Unglück. Longworth spürt Kid endlich eher zufällig auf und erschießt ihn. Kaum ist Kid beerdigt, wird erstmals behauptet, der Tote sei gar nicht Kid gewesen; der habe sich vorher nach Mexiko abgesetzt.

GALERIE (6 Bilder)

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Fazit

Gewollt weist die Handlung des Romans Parallelen zu den letzten Lebensmonaten Billy the Kids auf, der unter sehr ähnlichen Umständen aus dem Gefängnis entkam und schließlich von Pat Garrett erschossen wurde. Garretts Buch „The Authentic Life of Billy the Kid“ inspirierte Neider zum vermutlich ironisch gemeinten Titel seines Romans, wobei weder das eine noch das andere Werk als authentisch zu bezeichnen ist (trotz der taggenauen Zeitangaben, die sich bei Neider finden).

Neiders Buch – mit rund 54.000 Wörtern übrigens nur wenig länger als ein Heftroman – ist mit seinen Landschafts- und Charakterbeschreibungen sowie seiner poetischen Sprache ein Paradebeispiel für einen literarischen Western. Wo findet man in einem Western sonst eine Formulierung wie „Er feuerte, ohne zu überlegen, ohne zu zielen, und die Kugel wußte wie immer ihren Weg, sie sprach für Kid, wie alle zuvor“?

Spätere Kritiker meinen, Neider habe mit seiner Erzählweise und seinem Schreibstil starken Einfluss auf Cormac McCarthy gehabt.

Soweit die Geschichte aus Doc Bakers Blickwinkel erzählt wird, geschieht dies in einem lakonischen Plauderton, der – durchsetzt mit einem manchmal brutalen Realismus – mal hierhin und mal dorthin abschweift. Dabei werden allerdings detailliert auch Geschehnisse beschrieben, die Baker nicht aus eigener Anschauung hätte kennen können, was seinen Anspruch, die Wahrheit über Kid zu berichten, etwas ins Zwielicht rückt.

In den anderen Passagen werden virtuos die Perspektiven gewechselt, sodass der Leser Patrons und Dedricks Tode nicht nur mit Kids Augen sieht, sondern auch aus Sicht seiner Opfer erlebt.

Der Übersetzer Udo Rennert (1938 – 2021) war vor allem für Arbeiten im Sachbuchbereich bekannt. Neiders Roman könnte durchaus das einzige belletristische Werk sein, das Rennert ins Deutsche übertrug, und mir scheint, er nutzte die Gelegenheit, um seinem Affen ab und an Zucker zu geben. Wenn Neider in einem Dialog schlicht „I said“ schreibt, dann macht Rennert daraus schon einmal „kriegt er von mir zu hören“. Allerdings merkt man an einigen Stellen, dass Rennert mit dem Western-Genre offenbar nicht vertraut war, beispielsweise, wenn Revolver bei ihm weiblich sind („die“ statt „der“ Fünfundvierziger). Insgesamt jedoch ist der deutsche Text sehr angenehm lesbar und ist ihm nur selten anzumerken, dass er eine Übersetzung ist.

Ein Buch, das nach mittlerweile weit über dreißig Jahren eine Neuauflage verdient hätte.

Reinhard Windeler, April 2022


 Bewertung

9 von 10 Revolverkugeln